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 In Memoriam Erich Wulff

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Cathrin
Gast










BeitragVerfasst am: 11.02.2010, 17:31    In Memoriam Erich Wulff Antworten mit ZitatNach oben

1961 kommt der deutsche Arzt Erich Wulff nach Vietnam, um als Dozent fuer Neurologie und Psychatrie an der Universitaet von Huế zu lehren. Er kommt ohne besondere Kenntnisse ueber das Land, ohne ausgepraegte politische Ansichten. Sechs Jahre spaeter gilt er als vorzueglicher Vietnam-Experte und traegt durch seine Aussagen vor dem Kriegsverbrecher-Tribunal in Roskilde dazu bei, dass die amerikanische Vietnam-Politik und die Hilfsdienste der Bundesrepublik vor der Weltoeffentlichkeit angeprangert werden. Was dazwischen liegt, sind, im Goetheschen Sinne des Wortes, jedoch mit deutlichem politischen Akzent, Lehrjahre, angefuellt mit Erfahrungen und Erlebnissen, die einen Lernprozess ausloesten, ihn nicht nur Vietnam anders sehen lernten, sondern ihn selbst zu einem anderen machten.

Im Mittelpunkt dieser sechs Jahre stehen die Buddhisten-Unruhen in Huế, die das Ende der Diệm-Diktatur einleiteten. Wulff, der Zeuge der Terroraktionen der Machthaber war, Dokumente darueber veroeffentlichte und deshalb das Land verlassen musste, hat das Seine zum Sturz Diệms beigetragen. Als er nach Saigon zurueckkehrte, waren seine vietnamesischen Freunde, mit denen er politische Zukunftsplaene geschmiedet hatte, Minister geworden. Aber von den alten Plaenen war wenig ueberiggeblieben. Man machte "Politik" und fuehrte Krieg. Fuer Wulff jedoch gingen die Lehrjahre weiter, mit neuen Erlebnissen und neuen Erkenntnissen, die ihn schliesslich dahin fuehrten, fuer die Nationale Befreiungsfront Partei zu ergreifen, waehrend sich die Lage in Vietnam immer mehr zuspitzte.

In seinem 1968 veroeffentlichten Buch Vietnamesische Lehrjahre - Sechs Jahre als deutscher Arzt in Vietnam (ISBN: 978-3518365731), welches unter dem Pseudonym Georg W. Alsheimer bei Suhrkamp erschien, berichtet er von allen diesen Ereignissen mit der Spontanitaet und Genauigkeit des unmittelbar betroffenen. Er zieht den Leser mit hinein, laesst ihn mit sich erleben und lernen, enthuellt ihm Schritt um Schritt Ausmass und Motive des amerikanischen Engagements (und auch desjenigen der Bundesrepublik), macht ihn bekannt mit Schluesselfiguren der juengsten Geschichte Vietnams, mit Politikern, "Beratern", Agenten, deren genaue und intime Portaits er zeichnet. Aber auch mit ganz namenlosen Angehoerigen dieses Volkes, Barmaedchen, Patienten, "Viet Congs", die nicht weniger Schluesselfiguren seines Berichtes sind. Eines Berichtes, der nicht nur politische Brisanz besitzt, sondern auch politische Erfahrungen vermittels, der nicht allein von Abenteuern erzaehlt, sonder selbst Abenteuer ausloest: im Bewusstsein seiner Leser.

Im Vorwort zu seinem Buch schreibt Erich Wulff:
Zitat:
Diese Lehrjahre sind nicht meine Privatsache. Fuer den weltweiten politischen Aufstand der Studenten war der amerikanische Krieg in Vietnam der entscheidende Katalysator. Seit dieser Krieg erfahren wird, vermag die "Freie Welt" sich nicht mehr zu legitimieren. Dieser Krieg ist ein Geschichtszeichen wie vordem der Faschismus, und aus jedem seiner Details kann gelenrt werden. Darum strenge ich in diesem Buch meine Erinnerung an und berichte.


Von 1968 bis 1974 arbeitete Erich Wulff als Oberarzt der Psychiatrie-Klinik am Universitaetsklinikum Giessen, wo er sich 1969 habilitierte, und wurde Professeur associé an der Universitaet Paris VIII. 1974 wurde er auf die neu geschaffene Professur fuer Sozialpsychiatrie an der Medizinischen Hochschule Hannover berufen.

Erich Wulff gehoerte zu den Mitbegruendern der Gesellschaft fuer die Freundschaft zwischen den Voelkern in der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Republik Viet Nam e.V. und war bis zuletzt Ehrenmitglied des Vorstandes. Er kehrte nach dem Krieg noch mehrmals nach Vietnam zurueck. Im April 1991 erschien sein Bericht Eine Reise nach Vietnam (ISBN: 978-3518371282) wiederum bei Suhrkamp. Seine letzte Reise nach Vietnam fand im Jahre 2008 statt. Unter dem Titel Vietnamesische Versoehnung: Tagebuch einer Vietnam - Reise 2008 zu Buddhas und Ho Chi Minhs Geburtstag (ISBN: 978-3886194735) erschien dieser Reisebericht, der leider sein letzter bleiben wird, im April 2009 im Argument Verlag.

Erich Wulff starb am 31. Januar 2010 im Alter von 83 Jahren in Paris, wo er seit 2003 mit seiner Frau lebte.

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Catinat
Gast










BeitragVerfasst am: 11.02.2010, 23:53    (Kein Titel) Antworten mit ZitatNach oben

Hallo, Cathrin,
klar, dass ich Dir darauf antworten muss. Aber durchaus positiv. Ich bin Dir auch dankbar, wenn in diesem Forum nicht nur über Saigon-Bier , was ich auch nicht verachte, keineswegs, nachgedacht wird, sondern auch über Geschichte. Eine Geschichte, die ja bewirkt, dass … ja dass wir in SaiGon und in Hanoi auch „in Frieden“ (!) das Bier trinken können. Unter anderem. Ich will Deinen wichtigen Beitrag zum Tode von Professor Erich Wulff hier auch nicht verwässern, indem ich einfach etwas dazu setze. Keinesfalls. Ich lege ihn jedem ans Herz.
Ich habe mir heute folgende 3 Bücher bei Amazon und 1 bei buecher.de bestellt :
1. Die „Vietnamesische Versöhnung“ von Erich Adalbert Wulff (gebraucht : 12,90 € bei Amazon)
2. „Irrfahrten. Autobiographie eines Psychiaters“ von E.A. Wulff,
3.„Vietnam, mon amour“ Neuaufl. 2005 von einem deutschen jüdischen Weggefährten Ho Chi Minhs, einem moralischen Abenteurer.
4. The Dung : „Der Traum von Orly“, in dem es um „die Machtstrukturen, die emotionalen Beziehungsgeflechte im Vietnam der späten 1980er Jahre“ (Kritiker Peter Knost) geht.

Wulffs „Vietnamesische Lehrjahre“ von 1968 mit einem ergänzenden Nachbericht 1972 (auch Frankfurt) und „Eine Reise nach Vietnam sind unter seinem Synonym Georg W, Alsheimer erschienen.
Zwischen Dir und mir liegen mit Alter und den Lebenserfahrungen zwei Generationen.
Ich habe Anglistik, Pädagogik und Psychologie studiert, zufälligerweise habe ich meine Staatsexamensarbeit über J.J. Rousseau in Paris geschrieben, als Erich Wulff Professeur Associé an der Sorbonne Paris VIII wurde. Meine professionelle Grundlegung für den späteren Beruf mit Behinderten und mein politisches Engagement haben die Ereignisse 1968, der Vietnamkrieg und später die Ereignisse im Chile Allendes und seines vom CIA gepushten Pinochets gleichermaßen geprägt. Aus dem Wissen um die Bedeutsamkeit von seelischen Balancen heraus habe ich als Psychologiestudent Wert darauf gelegt, Leute zu kennen und mit ihnen zu arbeiten, die in die Ereignisse involviert sind. So kenne ich die Strukturen Chiles durch die ideologisch zerrissene Familie meines chilenischen Freundes vor Ort (noch) eher besser als die von Vietnam.
Auf eines habe ich auch strikt geachtet und mir zur Devise gemacht : Respektiere nach Möglichkeit bei allem Widerstreben wenigstens ansatzweise die Beweggründe der „Gegenseite“. Lerne, seine Ängste zu verstehen. Banal : lerne Deinen „Gegner“ sehr sorgfältig kennen, sonst hast Du keine Chance. Ich oute mich äußerst ungern. Als „alter 68er“ ist man heute schnell in einer leicht angreifbaren Ecke. Ich verstecke das sonst lieber unter einer Decke Zynismus. Damals habe ich mich – als Anglist und als Psychologiestudent – immer bemüht, auch mit Amerikanern zusammen zu arbeiten. Natürlich waren das für mich damals die Anti-Vietnam-Kriegs und Regierungspolitik - oppositionellen jugendlichen Mitstudenten von den Unis in Pennsylvania und in Ohio, sowie in Canada. Sie waren es, die Nixon und Kissinger ins Ruder gegriffen haben. Junge Amerikaner, meine Kommilitoninnen und Kommilitonen, die etwas Entscheidendes auch für die Zukunft und heutige Gegenwart eines freien, geeinten Vietnam und für Deine und meine Zukunft verändert haben.
Als ich dann – eher unfreiwillig und begleitend, ich war auch mal jung – in meinem Beruf auch „Beamter“ wurde, riskierte ich schon einiges mit meinen Engagements. ( Heute wird unser Engagement auf der Straße unter den Augen des Verfassungsschutzes eher belächelt. ) Was, bei dann bald zwei Kindern, meine damalige Ehefrau auch nicht nur toll fand.
Ich wünschte mir bei Dir und jungen Leuten Deiner Generation nicht bloß akademisch korrektes Verhalten in einem Dich schützenden, vergleichsweise einfachen Umfeld sondern ähnlichen Mut: den Mut , darauf hinzuweisen, dass Krieg und seine Folgen (z.B. Heimatlosigkeit) nie eine Option darstellt, die Welt zu bessern. Ich denke, dass das auch mein Professor Erich Wulff in seinem Lebenswerk beabsichtigt hat, zu zeigen.
Spät lernte ich die Frau aus Vietnam kennen, die dann meine jetzige Ehefrau wurde. Hier setzen ein paar meiner auch unter dem Einfluss von Psychologen wie E.A. Wulff, al. Alsheimer, gewonnenen Einsichten zur Psychiatrie ein. Leider. Tiefe Traumatisierungen eines Kriegsopfers.
http://p-ntzp.org/dok/15Erich_Wulf1_de.pdf („Heimatverlust“). Wulff hat sich vorzugsweise und intensiv mit Aspekten der Schizophrenie beschäftigt. Ich erwähnte im Forum schon einmal Symptome des PTBS (posttraumatisch Belastungsstörung) , die Ansätze zur Schizophrenie zum Ausbruch begünstigen können. Leider erkennbar bei vielen Opfern auch des Vietnamkrieges – auf allen „Seiten“. Leider auch – bis zu Drogenabhängigkeitsproblemen jüngerer Nachkömmlinge in Vietnam bis heute . Meine SaiGoner Tochter zum Beispiel ! Ich errege mich immer, wenn es um die Opfer von Agent Orange geht, so, als sei dies, als der sichtbare Teil von Kriegsverbrechen, das einzige, was schmerzt . Nein : das „unsichtbare“ Leid, die Provokation von Wahnsinn durch Krieg, alles nachzuempfinden in den „Argument“-Beiträgen des Psychiaters Erich Wulff („Psychisches Leiden und Politik. Ansichten der Psychiatrie.“ Ffm 1981, „Wahnsinnslogik. Von der Verstehbarkeit schizophrener Erfahrung“, Bonn 1995, Herausgeberschaft zu „Ethnopsychiatrie.Seelische Krankheit – ein Spiegel der Kultur?“ Wiesbaden 1978 und anderes von ihm) wiegt genauso schwer.
Sollte Dein Beitrag dazu dienen, den „Wahnsinn“ des Krieges auf der Grundlage der psychiatrischen Erkenntnisse Professor Erich Wulffs , grundsätzlich zu erkennen und nicht dünne Zuweisungen von Rechtfertigungen oder Schuld in Geschichte oder Politik mit Deinem Beitrag zu liefern, dann stimme ich Dir gerne zu, in diesem Sinne den Tod meines Professors am 31.12.2009 , 8 Tage nach dem Tod meines Vaters, mit zu betrauern. Ich schrieb ja eingangs : positiv.
Und ich empfehle zusätzlich : The Dung. Der Traum von Orly. ISBN 978-3-89502-291-3
Waren die Klausuren erfolgreich ?
Gute Reise nach D wünscht Catinat

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Catinat
Gast










BeitragVerfasst am: 12.02.2010, 20:43    (Kein Titel) Antworten mit ZitatNach oben

Sorry, ich habe vergessen, zu einem Buch den Verfasser – das eigentlich wichtige am Buch – anzugeben :
Ernst Frey. „Vietnam, mon amour. Ein Wiener Jude im Dienst von Ho Chi Minh. Hrsg. von Doris Sottopietra“. Der junge Ernst Frey , „doppelt stigmatisiert als Kommunist und Jude“ (Produktbeschreibung Verlag Czernin , Neuaufl. 2005 ISBN-13: 9783707601138 und ISBN-10-3707601137 ) flieht 1938 aus Wien in die Schweiz. Dort wird er für mehrere Monate inhaftiert, kommt dann nach Frankreich, wo er sich den internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg anschließen will. Aber er landet in der Fremdenlegion und kommt nach Algerien. 1941 mit der Fremdenlegion nach Indochina, wo er 1945 in japanische Kriegsgefangenschaft gerät. Er läuft zu Ho Chi Minh über, wird zuerst Ausbilder, dann zum Oberst befördert. 1950, erst 35 Jahre alt, kehrt er nach Wien zurück, stirbt dort 1994.

Beeindruckend. Spannend. Immer an Brennpunkten der Geschichte zwischen 1938 und 1950. Und das Bild eines Menschen mit Idealen gerade dort, wo es wohl am schwersten ist, Ideale zu bewahren. Im Krieg. Als Soldat.

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